Europäische Demokratie – 1848 und heute - Rede in der Paulskirche
Sehr geehrte Damen und Herren,
Wenn ich an die Frankfurter Nationalversammlung denke, sehe ich vor meinem inneren Auge nicht die Paulskirche, sondern ein kleines, unscheinbares weißes Häuschen. Das Revoluzzer-Haus. Es steht in Hallgarten, in meinem Wahlkreis - dem wunderschönen Rheingau.
Hier traf sich vor gut 175 Jahren der sogenannte Hallgartener Kreis um die Nationalversammlung vorzubereiten. Dazu gehörten Robert Blum, Johann Jacoby, Carl Theodor Welcker oder Heinrich von Gagern. Adam von Itzstein hatte das Häuschen extra zu diesem Zweck etwas außerhalb des Ortes gebaut. Damit die Gruppe im Falle einer Polizeikontrolle schnell in die umliegenden Weinberge fliehen konnte.
Adam von Itzstein nahm - wie viele andere - hohe persönliche Risiken auf sich für seine Ideale. Für Demokratie und Freiheit.

Zunächst schienen sie Erfolg zu haben:
Im Dezember 1848 wurden hier an dieser Stelle die Grundrechte des deutschen Volkes verkündet. Erstmals in der deutschen Geschichte wurden damit die Freiheitsrechte der einzelnen Bürgerinnen und Bürger formuliert: die Freiheit der Person, die Meinungsfreiheit, Glaubens- und Gewissenfreiheit, Versammlungs- und Koalitionsfreiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Freizügigkeit, Berufsfreiheit, Unverletzlichkeit des Eigentums. Die Todesstrafe wurde weitgehend abgeschafft.
Bekanntermaßen scheiterten diese Ideen zunächst.
Adam von Izstein - unser Revolutionär aus Hallgarten - musste ins Schweizer Exil fliehen. Ihm wurden die Bürgerrechte aberkannt. 1850 kehrte er krank zurück und verstarb wenige Jahre später.
Was ging ihm in diesen letzten Jahren wohl durch den Kopf? Verlor er den Mut? Dachte er sein Kampf war vergebens?
Nein! Seine politischen Ideen und Ideale lebten und leben fort. 1848 war die Geburt der europäischen, politischen Moderne.
Die Grundrechte von 1848 und die Reichsverfassung von 1849 legten Grundwerte und Freiheiten fest, die nicht nur das Fundament unseres heutigen Grundgesetzes sind. Sie sind zugleich Kern des Wertekanons der Europäischen Union. Dies zeigt die Tragweite des Wirkens des damaligen Paulskirchen-Parlaments.
Auch wenn der Drang nach Freiheit und Demokratie, nach Mitbestimmung und Teilhabe immer wieder unter Druck geriet und Rückschläge zu verkraften hatte, er wurde nie erstickt und bannte sich seinen Weg, um zu gedeihen. Und das in ganz Europa.
Denn nicht nur Hallgarten - und Frankfurt - in ganz Deutschland, in Frankreich, in Italien, in Ungarn, in Polen, in Böhmen und in Kroatien lehnten sich Bürgerinnen und Bürger auf - gegen Strukturen, die ihnen die Teilhabe und Demokratie verweigerten.
Die europaweite Parallelität der Ereignisse war kein Zufall.
1848 war das Jahr einer europäischen Freiheitsbewegung.
An vielen Orten und in vielen Sprachen wurde damals der Ruf nach Partizipation, nach Grundrechten, nach Freiheit laut. Der Wind des Wandels, der Wind der Demokratie, der Wind der Freiheit wehte durch Europa. Die gemeinsame Tradition der Freiheitsbewegungen, die die europäischen Staaten bereits 1848 verband, war und ist das geistige Fundament des heutigen vereinten Europas. Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit sind das Ergebnis eines langen Ringens auf unserem Kontinent. Das Ergebnis ist ein Raum der Freiheit und des Friedens, der ungebrochene Strahlkraft hat.
Daher wollen zahlreiche Staaten Mitglied unserer Union werden. Die Menschen auf dem Westbalkan, in Moldau, in Georgien und in der Ukraine streben in die EU - denn sie gibt ihnen Sicherheit. Sicherheit auf eine Zukunft in Freiheit und Demokratie.
Denn Freiheit, Demokratie und Frieden sind auch im Europa des 21. Jahrhunderts leider keine Selbstverständlichkeit - wie Russlands brutaler Angriffskrieg auf die Ukraine jeden Tag aufs neue zeigt.
Wir stehen an der Seite der mutigen Menschen in der Ukraine, die unsere Werte gegen einen brutalen Despoten verteidigen. Wir stehen an ihrer Seite und bieten ihnen eine Zukunftsperspektive in Frieden und Freiheit in der EU.
Mit der Erweiterung der EU wollen wir die europäische Bewegung von 1848 vollenden.

So stärken wir die europäische Demokratie gegen Angriffe von innen und von außen. Es geht nicht mehr um das Ob, sondern um das Wie. Natürlich muss die Europäische Union auch in der Zukunft handlungsfähig bleiben. Nur so werden wir unsere Freiheit und Rechtstaatlichkeit verteidigen können. Wir müssen Entscheidungen zügig und effektiv treffen - auch mit 33 oder 35 Mitgliedern.
Wir werden daher das institutionelle Gefüge der EU überdenken müssen, die einzelnen Politikfelder durchkämmen und auch einen Blick auf die Funktionsweise der Institutionen richten. Dieser Aufgabe müssen wir uns entschlossen annehmen. Nur so wird die EU fit für die Erweiterung. Wir brauchen zum Beispiel weniger nationale Vetos.
Dabei bin ich mir vollauf bewusst: dass wir bereits heute in der EU Entscheidungen mit Mehrheit treffen, ist eine kleine Revolution. Gerade wenn wir den Blick zurück auf das Jahr 1848 werfen, wird uns bewusst, welch weiten und erfolgreichen Weg die Demokratie in Europa seit 1848 gegangen ist. Souveräne Nationalstaaten schließen sich zu einer Union zusammen und entscheiden über Angelegenheit von gemeinsamem Interesse mit Mehrheit. Einzelne Nationalstaaten können überstimmt werden. Heute ist die Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit in vergemeinschafteten Bereichen sogar die Regel; Einstimmigkeit die Ausnahme.
Damit hat die europäische Integration schon heute einen Stand erreicht, von dem 1848 – aber auch bei Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1951 – nicht einmal geträumt werden konnte.
Aber manche träumten eben doch und ließen Träume Wirklichkeit werden. Der Durst nach Frieden und Freiheit gepaart mit der Bereitschaft zur Aussöhnung legten das Fundament für ein gemeinsames Europa.
Daraus lässt sich ablesen, dass Europa nie ein abgeschlossenes Projekt, sondern immer schon ein fortdauernder, manchmal zäher Prozess war. Bei dem um Fortschritte immer wieder neu gerungen werden musste – heute wie 1848.
Auch heute stehen wir vor einer historischen Weichenstellung: Auf der einen Seite wollen wir die EU erweitern und damit unsere Freiheit und Sicherheit stärken. Gleichzeitig müssen wir die EU reformieren, um unsere demokratische Handlungsfähigkeit zu gewährleisten. Vor uns liegt eine historische Aufgabe. Angehen sollten wir sie im Geiste von 1848.
Meine Damen und Herren,
lassen Sie mich auf den zentralen Punkt der Freiheitsbewegung von 1848 zurückkommen: die Demokratie.
Demokratie ist das Fundament Europas. Sie ist in den europäischen Verträgen fest verankert. Sie hat uns durch viele Krisen getragen und geriet dabei immer wieder unter Beschuss. Demokratie und ihre Wehrhaftigkeit – nach innen wie nach außen – sind heute wichtiger denn je.
Dazu gehören zum einen natürlich die nationalstaatlichen demokratischen Strukturen. Sie bilden mit der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenrechte und der Gleichheit und Freiheit die Grundlage des europäischen freiheitlich-demokratischen Gesamtgefüges. Dieses wertebasierte Gesamtgefüge ist es, das die Einheit der EU überhaupt erst ermöglicht. Die gemeinsamen Werte bilden die Grundlage für das Vertrauen der Mitgliedstaaten ineinander. Dieses gegenseitige Vertrauen wiederum ist die Voraussetzung für das erfolgreiche Funktionieren der EU.
Deshalb ist es so zentral, da die Union eine Rechtsunion ist und BLEIBT!
Sowohl unter den bestehenden als auch mit künftigen Mitgliedsstaaten müssen wir einem offenen und ehrlichen Dialog zum Zustand der Demokratie führen.
Bei Rechtstaatlichkeit darf es keine Rabatte geben. Erhebliche Mängel müssen notfalls auch sanktioniert werden. Da haben wir einige neue Instrumente geschaffen. Vor weiteren Erweiterungen müssen wir sicherstellen, dass sie auch wirklich funktionieren und Rechtstaatlichkeit in den Mitgliedsstaaten effektiv schützen.
Auf europäischer Ebene stellt die Wahl zum Europäischen Parlament sicher, dass die Bürgerinnen und Bürger der EU in den demokratischen Prozess der EU direkt und unmittelbar einbezogen werden. Und das bereits seit 1979.
Der nächste Termin für die Europawahl steht auch schon fest:
Wir dürfen am 9. Juni 2024 an die Wahlurnen treten und damit Gebrauch von unserem Wahlrecht machen. Einem Recht, um das die 1848er hart gerungen haben.
Nächstes Jahr ermöglichen wir noch mehr Menschen von diesem Recht Gebrauch zu machen: Wir senken das Wahlalter auf 16. So stärken wir die politische Beteiligung der jungen Generation.
Eine „Europäisierung der Europawahl“ könnte die europäische Demokratie im Sinne der paneuropäischen Freiheitsbewegung von 1848 weiter stärken.
Deswegen setzt sich diese Bundesregierung für eine Reform des europäischen Wahlrechts ein. Diese würde beispielsweise die Einführung von europaweiten, also transnationalen Wahllisten enthalten. Dann könnte eine Deutsche für einen Portugiesen stimmen und ein Finne für eine Italienierin. Denn das Wahlrecht ist der Kern der Demokratie.
Und demokratische Partizipation muss immer wieder an die neuen Gegebenheiten angepasst werden. Also an das heutige Europa, an die immer stärker zusammenwachsende EU.
Schließlich muss unsere europäische Demokratie resilienter werden - sowohl gegen Angriffen von innen wie von außen. Wir stehen vor großen Herausforderungen.
Aber wenn wir auf 1848 zurückblicken, haben wir bereits sehr viel erreicht: Die Gründung der Europäischen Union hat Spannungen zwischen den Mitgliedsstaaten verringert und Frieden gestärkt2.
Die EU hat zu einer engen wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten geführt. Nach wie vor ist das die Grundlage unseres Wohlstandes.
Durch die Schaffung der Grundrechte-Charta der EU, der Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wurden Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit als Grundpfeiler auf dem europäischen Kontinent verankert.
Und die europäische Demokratie hat Mechanismen geschaffen, um Bürgerinnen und Bürger in ganz Europa an politischen Entscheidungen zu beteiligen.
Lassen Sie es mich ganz klar sagen: Diese europäische Demokratie müssen wir auch weiterhin mit vollem Einsatz verteidigen.
Manchem mag bange werden angesichts der Herausforderungen, vor denen wir heute stehen. Die Geschichte lehrt uns jedoch, dass sich ein langer Atem lohnt. Und dass der Weg niemals ohne Steine, ohne Umwege verläuft.
Wenn wir heute in Hallgarten vor dem Revoluzzer-Häuschen sitzen, können wir in Frieden und Freiheit anstoßen und Adam von Itzstein und seinen Kollegen im Geiste zurufen: Unsere Freiheit, unseren Frieden haben wir auch Euch und Eurem Mut zu verdanken!
Die Ideale, für die Ihr Euch 1848 europaweit eingesetzt haben leben fort. Und wir arbeiten jeden Tag daran, Euer Erbe zu schützen!
Indem wir gemeinsam europäisch zusammenarbeiten und mehr Mitglieder in die europäische Familie aufnehmen.
Indem wir die europäische Demokratie erneuern und zukunftsfest machen.
Indem wir den Despoten dieser Welt entschlossen die Stirn bieten.
In Deutschland, in der EU, in der Ukraine!
Vielen Dank!